Zähler = Nenner

Cibachrome 80 x 100 cm im geprägten Passpartout, 1995-98



Auszug aus dem Text "Gegen das Vergessen – Den Finger an die Erinnerungswunden legen"

In dem umfangreichen Werk Zähler = Nenner, 1995/97 erfasst Beate Passow tätowierte Unterarme von Menschen, die Gefangene des ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz waren. Die Gezählten sind namenlos. Sie leben heute in vielen Ländern Europas und in Israel. Es sind alt gewordene Menschen, die ihre Arme und Hände zeigen. Alles Individuelle des Menschen, seine Lebendigkeit und seine Hilflosigkeit wie seine Stärke offenbaren sich hier. Es sind Menschen, die überlebten und die allein durch Ihre Existenz zu uns sprechen. Sie sagen durch ihre Bezeichnung, was mit ihnen geschehen ist: einst zu zählbarem Material reduziert und mit diesem Menetekel behaftet sind sie durchs Leben gegangen. Sie sagen uns, da? sie Menschen sind wie alle anderen auch, die individuell verschieden sind, sich schmücken und die alt und gebrechlich werden, wenn sich das Leben neigt. Beate Passow hat für diese Arbeit die betroffenen Menschen aufgespürt, sie befragt und um die Erlaubnis für die Aufnahme gebeten. Sichtbar werden uns allein die ausgebreiteten Arme, im Querformat mehr oder weniger mittig aufgenommen, die Wendung des Armes so, daß jeweils die Tätowierung sichtbar ist. In der zahlreichen Aneinanderreihung von 40 Aufnahmen wird so der gemeinsame Nenner ablesbar. Dieser Nenner führt uns auf den Grund der Entmenschlichung: unmittelbarer noch als im Judenstern wird der Zwang, die Unterdrückung und Mechanisierung anschaulich gemacht, die selbst vor dem Menschen nicht einhielt. Das, was wir hier schauen können, vermittelt etwas vom Unglaublichsten. Der ersten Betroffenheit folgt eine Sprachlosigkeit. Es gibt eigentlich nicht mehr zu sagen als; Seht euch das an.

Und doch: in der Reihung, immer vor dem gleichen blaugrauen Karton, entsteht einerseits Vergleichbarkeit der manchmal hilflos wirkenden, gereckten Arme, andererseits werden sie für die Betrachtung nochmals einem starren Raster unterworfen, das durchaus auch als zwanghaft empfunden werden kann. Aus dem Einzelfall entsteht so die aufs Allgemeine zielende Aussage.

Dr. Helmut Friedel